(ninjah ist in einer leeren Wohnung. Die Wohnung wurde neulich renoviert und sein Job ist jetzt, die alten Türen und Rahmen zu streichen. Es gelingt ihm nicht so gut: nach ein paar Stunden hat er Lacknasen und Kleckse an den frisch gemalerten Wänden und auf den nagelneuen Fussböden produziert.)
Ich streiche gerade ein paar Türen und Türrahmen: die Arbeit geht mir gut von der Hand und sieht sehr professionell aus. Ich denke, "Handwerker hamm doch immer Radio an." Im Nebenraum finde ich ein Radio, leider geht es nicht, im Kassettenschlitz ist ein Kassette, die Kassette funktioniert. Ich nehme das Radio mit in den leeren Raum, streiche weiter und höre das Band.
Die Aufnahme stammt aus den frühen Achtzigern. Eine alte Dame wird an ihrem 85. Geburtstag von ihrem Sohn interviewt. Sie sehen sich chronologisch sortierte Fotos an, die ihr Anhaltspunkte zu Erinnerung und Erzählung geben.
Sie beginnt mit den Namen ihrer Eltern, ihrem Namen, ihrem Geburtsort. Sie erzählt, wo sie zur Schule ging, wie sie ihren Mann kennenlernte: "Er war kein schöner Mann, ich konnte ihn anfangs gar nicht ansehen, so hässlich war er! Also sah ich ihm immer auf den Hemdkragen. Im Laufe der Zeit sah er immer besser aus, im Alter richtig gut."
Sie sieht Bilder ihrer sechs Kinder und erzählt, wohin es sie verschlagen sollte, Berufswege, Emigrationen, Kriegsgefangenschaften. Sie sieht ein Bild ihres ältesten Sohnes, der im Krieg bleiben sollte, "Stolz guckt er hier aus seiner Uniform! Mir hat das nie gefallen."
Sie erzählt von dem Augenblick, als alle Kinder aus dem Haus waren und sie und ihr Mann sich aufs Sofa setzten, lachten und sich darüber freuten. Dann sagt sie, "Jaja, sechs Kinder und nur zwei Enkel. Tss!"
Später wird die Aufnahme unterbrochen, es piept, eine längere Pause. Als sie wieder eingeschaltet wird, singt sie und begleitet sich auf ihrem "treuen kleinen japanischen Klavier". Im Hintergrund fiepst ein Hund.
Später zeigt ihr Sohn ihr ein weiteres Foto und sie erzählt, "Ja, das bin ich auf deiner Hochzeit. Ich bin damals nach Berlin zu eurer Hochzeitsfeier gefahren und kam als Witwe zurück." Ihr Mann ist in der Nacht vor der Hochzeit schlaftrunken aus dem Fenster des Hotelzimmers gestürzt und am Morgen tot aufgefunden worden. Sie sagt, "Aber es war ja Hochzeit, die konnte ich euch doch nicht verderben."
Die Aufnahme wird angehalten, dann mitten im Satz wieder eingeschaltet:
"... erzähle ich dir jetzt etwas, was ich noch nie gesagt habe. Mein Mann sagte zu mir: Wenn wir einmal drüben sein werden, wirst du im sechsten Himmel sein. Ich werde im untersten Himmel sein und dort werde ich lediglich auf der Türschwelle sitzen. Und es wird mich froh machen, dich einmal im Jahr dort oben sehen zu können." Das sagte er, dabei war er doch so viel frommer als ich."
Schliesslich ist das Band durchgelaufen. Ich sitze an der Wand des leeren Raumes neben dem Kassettengerät und halte einen eingetrockneten Pinsel.
Das wäre eigentlich ein Schluss. Ich wollte mir verkneifen zu erwähnen, dass die alte Dame meine Urgrossmutter ist.
Ich kenne sehr viele der Fotografien, über die sie spricht. Sie hat mir dieselben Bilder gezeigt, aber zu einem Kind darüber gesprochen. Sie war eine lustige Person, nur manchmal fand ich ihre Geschichten langweilig: dann habe ich es geliebt, einfach ihr Gesicht anzufassen. Vielleicht, um jedes Mal erneut festzustellen, dass es sich ganz anders anfühlte als ich dachte, weiss nicht.
Einzelne Erinnerungen an sie, Erzählungen, Fotos, Momentaufnahmen eines Lebens im Hinterkopf, das fügte sich mit der Stimme im Raum nach und nach zusammen zu einem Ichweissnichtwas... na gut, das ist jetzt nicht irre originell: sowas wie ein schon seit langem halbfertig und angestaubt herumliegendes Puzzle mit vertrautem Motiv, zu dem man plötzlich eine Menge passender Teile in die Hand gedrückt bekommt und diese überraschend einfach einsetzen kann. Absehbar, dass viele Lücken bleiben werden, aber einige Teile vermitteln erstmals einen Eindruck von der bisher nahezu leeren Stelle Geschichte einer Liebe. Oder so. Und die befindet sich im Mittelpunkt des Ganzen. Langsam wird deutlich, dass das Ganze nicht das Porträt eines Menschen, sondern einer Familie ist. Und die Randstücke sind fast vollständig: "Sechs Kinder und nur zwei Enkel."
Tss.
Das einzige Foto